Die genannte Flugabwehrrakete kann nach Einschätzung von Militärexperten keine derartige Zerstörung verursachen. Der Schaden entspricht eher der Wirkung des russischen Ch-101-Marschflugkörpers. Dessen Charakteristika lassen sich auch in Videos des Raketeneinschlags identifizieren.
Fakten
In der ukrainischen Hauptstadt Kiew hat es am Morgen des 8. Juli mehrere Raketeneinschläge gegeben. Auch ein Gebäude am Ochmatdyt-Kinderkrankenhaus im Nordwesten der Stadt wurde dabei getroffen, wie Fotos ukrainischer Behörden und unabhängiger Journalisten zeigen. Deutlich ist zu sehen, dass ein Teil eines Nebengebäudes eingestürzt ist. Die Wucht der Explosion hat auch das etwas mehr als 50 Meter entfernt stehende Y-förmige Hauptgebäude der Ochmatdyt-Klinik beschädigt.
Fotos und Videos zeigen, dass viele Fenster und Teile der Verkleidung der etwa zehnstöckigen Fassade zerstört wurden. Nach Einschätzung von drei Militärexperten passt dieser Schaden nicht zu der Behauptung, hier sei eine Flugabwehrrakete eingeschlagen, wie sie das Nasams-Flugabwehrsystem verwendet.
Für das Nasams, ein von norwegischen und US-amerikanischen Rüstungskonzernen entwickeltes System, nutzt die Ukraine Flugabwehrraketen vom Typ AIM-120 AMRAAM. Sie besitzen einen Gefechtskopf von etwa 20 Kilogramm Gewicht. «Die AIM-120 AMRAAM ist eine Flugabwehrrakete, die dafür gedacht ist, Flugkörper abzuschießen. Der Gefechtskopf ist so designt, dass er neben dem Flugkörper explodiert, sodass die Splitter diesen treffen», sagte Markus Schiller der Deutschen Presse-Agentur (dpa). Der Experte für Raketentechnik lehrt an der Universität der Bundeswehr zu Fernflugkörpern und forscht am schwedischen Sipri-Institut.
Flugabwehrrakete verursacht geringere Schäden
Die vielen Metallteile aus der Flugabwehrrakete durchlöcherten gewissermaßen ihr Ziel. Das ist am Ochmatdyt-Kinderkrankenhaus nicht sichtbar. «Wäre dort eine Flugabwehrrakete eingeschlagen, würde man viele kleine Krater oder Vertiefungen durch die Splitter am Einschlagsort sehen, kein halb eingestürztes Gebäude. Sie würde auch keine so große Druckwelle erzeugen», sagte Schiller. «Das Schadensbild zeigt eindeutig den Einschlag von etwas Größerem.»
Zur gleichen Einschätzung kommt auch Fabian Hoffmann, der an Universität Oslo zu Raketentechnik und Nuklearstrategie promoviert. Die Menge an tatsächlichem Sprengstoff in einem 20-Kilogramm-Gefechtskopf sei begrenzt. «Der Sprengstoff im Gefechtskopf eines AIM-120 wäre niemals in der Lage, ein solches Ausmaß an Zerstörung zu verursachen», sagte Hoffmann der dpa. Das Schadensprofil passe zu einem Kh-101-Sprengkopf des russischen Marschflugkörpers, der insgesamt etwa 400 bis 450 Kilogramm wiegt.
Vom Anflug der Rakete und dem Moment des Einschlags existieren mindestens zwei verschiedene Augenzeugen-Videos. Das hier aus leicht unterschiedlichen Winkeln dieselbe Szene gezeigt wird, macht eine Manipulation äußerst unwahrscheinlich.
Video zeigt Marschflugkörper kurz vor Einschlag
Die Videos lassen sich eindeutig dem Ort des Angriffs zuordnen: Zu erkennen ist die Fassade des Ochmatdyt-Kinderkrankenhauses. Auch die Druckwelle, die Zerstörung an dieser Fassade verursacht, ist im Video zu sehen. Verdeckt von einem Hochhaus ist zudem das Feuer einer Explosion rechts vom Klinik-Haupthaus erkennbar – eben dort, wo ein Nebengebäude teils einstürzte.
Die Beschädigung von Fenstern in dem mehrstöckigen Gebäude, das mehr als 50 Meter vom Einschlagsort der Rakete entfernt ist, ein großer Feuerball und eine hohe Rauchfahne deuten eher auf die Detonation eines großen als eines kleinen Sprengkopfes hin, so der Militärforscher Timothy Wright von der Denkfabrik International Institute for Strategic Studies (IISS). «Aufgrund dieser Indikatoren ist es fast sicher, dass es sich bei der Rakete, die in das Kinderkrankenhaus von Ohmatdyt einschlug, um eine russische Kh-101 und nicht um eine ukrainische Nasams handelte», sagte Wright der dpa.
Sieht man sich einzelne Bildausschnitte des Videos vom Anflug der Rakete genauer an, so ist am Heck ein dunkler, rechteckig wirkender Anbau zu erkennen. Timothy Wright erklärt, worum es sich dabei handelt: «Auf dem Video ist auch deutlich ein Motor unter der Raketenzelle zu sehen, ein Merkmal, das bei der Kh-101 vorhanden ist, nicht aber bei der Nasams, deren Feststoffmotor vollständig im Gehäuse der Rakete untergebracht ist.» Diese Beobachtung bestätigten auch die anderen befragten Militärexperten.
Eigenschaften passen nicht zu Flugabwehrrakete
Während die Flugabwehrrakete spitz wie ein Dartpfeil geformt sei, habe die einschlagende Rakete so wie der Ch-101-Marschflugkörper eher die Silhouette eines abgerundeten Torpedos. «Nasams erreicht außerdem ein Mehrfaches der Schallgeschwindigkeit, während die Kh-101 viel langsamer ist, was mit der Geschwindigkeit der Rakete in den Aufnahmen übereinstimmt», sagte Wright.
Das ukrainische Justizministerium hat weitere Belege dafür veröffentlicht, dass eine russische Rakete das Krankenhaus getroffen hat. «Spezifische Konstruktionsbesonderheiten der gefundenen Trümmerteile und entsprechende typische Markierungen zeugen vom Einsatz eines strategischen Marschflugkörpers des Typs Ch-101», sagte Vizejustizminister Andrij Hajtschenko gemäß einer Mitteilung. Es seien insgesamt mehr als 30 Fragmente der Rakete gefunden worden, darunter Teile des Triebwerks und der Flügel. Zuvor hatte bereits der ukrainische Geheimdienst SBU Fotos von Trümmerteilen einer Ch-101-Rakete vorgelegt.
(Stand: 10.7.2024)