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Vorsicht vor diesen Falschbehauptungen zur 15-Minuten-Stadt

Die 15-Minuten-Stadt ist ein städtebauliches Konzept, das die alltäglichen Wege auf eine Viertelstunde zu Fuß, mit dem Rad oder dem öffentlichen Nahverkehr reduzieren soll. In sozialen Netzwerken behaupten User, damit solle die Bewegungsfreiheit der Bewohnerinnen und Bewohner eingeschränkt werden. Mobilität sei dann angeblich nur noch einer kleinen Elite vorbehalten, während allen anderen Strafen drohen, wenn sie ihr Wohngebiet verlassen. Das Konzept sieht jedoch keine Sanktionen vor, sondern will vielmehr Anreize schaffen, freiwillig auf das Auto zu verzichten.

Tausende User haben seit Ende Januar 2023 ein Video des österreichischen Online-Fernsehsenders AUF1 auf Facebook geteilt, in dem verschiedene Behauptungen über das Konzept der 15-Minuten-Stadt aufgestellt werden. Das Video verbreitete sich auch auf Telegram, wo es hunderttausende Menschen sahen.

Die Behauptung: Das Video beginnt mit der Aussage, „Globalisten“ würden unter dem Vorwand eines „angeblichen Klimanotstandes“ nach Wegen suchen, „Menschen zu manipulieren und zu kontrollieren“. Smarte, 15-Minuten-Städte seien eine neue Methode, um dieses Ziel zu erreichen. In solchen Städten solle die Erzeugung von CO2 mit Hilfe eines Sozialkreditsystems „unter Strafe gestellt“ werden. Mobilität gebe es in 15-Minuten-Städten nur für eine herrschende Klasse, heißt es.

Das Konzept gehe demnach auf die Erfahrungen mit Lockdowns in der Corona-Pandemie – oder, wie es in dem aktuell geteilten Clip heißt, der „Pandemie-Inszenierung“ – zurück. In Wien, das Vorreiter bei der Umsetzung des Konzepts der 15-Minuten-Stadt ist, soll es den Bürgerinnen und Bürgern nicht erlaubt sein, eine ihnen zugewiesene Zone zu verlassen.

In der britischen Stadt Oxford sollen angeblich sechs 15-Minuten-Bezirke entstehen, in denen die Autonutzung eingeschränkt werden soll. Der Stadtrat von Oxford plane Geldstrafen in Höhe von 70 Pfund (78 Euro) für Autofahrerinnen und Autofahrer, die mehr als 100 Tage im Jahr außerhalb der ihnen zugewiesenen Bezirke fahren, heißt es in dem Clip.

Screenshot der Behauptung auf Facebook: 22. Februar 2023 

Das rund fünfeinhalb Minuten lange Video wurde am 27. Januar 2023 auf der Website des österreichischen Online-Senders AUF1 veröffentlicht. Der Sender bezeichnet sich selbst als „ersten Online-TV-Sender, der professionelle, alternative und unabhängige Nachrichten anbietet“. AUF1 trat in der Vergangenheit mehrfach durch die Verbreitung von Falschinformationen und Verschwörungserzählungen in Erscheinung. AFP berichtete bereits über verschiedene Falschbehauptungen zu 15-Minuten-Städten hier.

EU plant kein europäisches Sozialkreditsystem

Auch das aktuell geteilte AUF1-Video zu 15-Minuten-Städten enthält zahlreiche falsche und irreführende Behauptungen. Zunächst heißt es, die Erzeugung von CO2 solle in diesen Städten mit Hilfe eines Sozialkreditsystems „unter Strafe gestellt“ werden. Zu diesem Zweck hätten sich die Mitgliedsstaaten der Europäischen Union auf die Einführung eines „EU Social Carbon Credit System“ geeinigt – ein erster Schritt, um die Mobilität der Bürgerinnen und Bürger einzuschränken, wie es in dem AUF1-Video heißt.

„Es gibt keine Pläne für die Einführung eines EU-Sozialkreditsystems“, erklärte eine Sprecherin des Rates der Europäischen Union, der Vertretung der 27 EU-Mitgliedstaaten, auf AFP-Anfrage am 1. März 2023 per E-Mail. Auch Ana Crespo Parrondo, Sprecherin der Europäischen Kommission für Klimapolitik und Energie, schrieb am 3. März 2023 in einer E-Mail, dass es sich bei der Behauptung um Falschinformationen handele. Es gebe keine europarechtlichen Regelungen über individuelle CO2-Emissionen von Bürgerinnen und Bürgern der EU.

Die Behauptung, die EU wolle ein Sozialkreditsystem zur Messung und Sanktionierung des individuellen CO2-Ausstoßes einführen, ist nicht neu. Mitte Dezember 2022 verbreiteten sich Beiträge in sozialen Medien (hier, hier), wonach EU-Bürgerinnen und -Bürger für ihren persönlichen CO2-Fußabdruck zahlen müssten. So wolle die EU ihre CO2-Emissionen bis 2030 um 55 Prozent reduzieren, hieß es damals.

Tatsächlich erzielten der Europäische Rat und das EU-Parlament am 18. Dezember 2022 eine vorläufige Einigung über das Programm „Fit für 55“, mit dem die Staatengemeinschaft ihre Treibhausgasemissionen bis 2030 um mindestens 55 Prozent senken will. Teil dieser Einigung ist eine Reform des Europäischen Emissionshandels, die höhere Abgaben für Unternehmen und Verbraucher für den Ausstoß von CO2 vorsieht, allerdings kein europäisches Sozialkreditsystem.

Eine Stichwortsuche nach den Begriffen „social carbon credit system“ und „social credit system“ in der EU-Gesetzesdatenbank „EUR-Lex“ brachte keine Ergebnisse, die auf die Einführung einer entsprechenden EU-Regelung hindeuteten.

Keine Einschränkung der Mobilität

Das Konzept der 15-Minuten-Stadt geht laut dem aktuell geteilten Video auf das C40-Netzwerk, einen Zusammenschluss von knapp 100 Städten weltweit, zurück. Ziel der C40-Mitglieder ist es, Maßnahmen zu ergreifen, um die Treibhausgasemissionen zu verringern und gleichzeitig die Gesundheit, das Wohlbefinden und die wirtschaftlichen Möglichkeiten ihrer Stadtbevölkerungen zu verbessern. Ein Ansatz ist dabei die Umsetzung der Idee der 15-Minuten-Stadt, die auf der ganzen Welt in Städten wie Shanghai, Bogota, Glasgow oder Paris bereits erprobt werde, wie der Sprecher des C40-Netzwerkes, Rolf Rosenkranz, am 28. Februar 2023 gegenüber AFP erklärte.

Die 15-Minuten-Stadt ist ein städtebauliches Konzept, das darauf abzielt, Quartiere zu schaffen, in denen die täglichen Wege – ob zur Arbeit, zum Einkaufen oder zur Gesundheitsvorsorge – nicht länger als 15 Minuten zu Fuß, mit dem Fahrrad oder dem öffentlichen Nahverkehr dauern. An Stelle von autozentrierten Städten sollen so gesunde, lebenswerte und nachhaltige Viertel entstehen, die an die Bedürfnisse ihrer Bewohnerinnen und Bewohner angepasst sind.

Fahrradverkehr, wie hier auf der Rue de Rivolil in Paris, ist ein Eckpfeiler des Konzepts der 15-Minuten-Stadt – CHRISTOPHE ARCHAMBAULT / AFP

Die Idee geht auf den französisch-kolumbianischen Stadtplaner Carlos Moreno zurück. Moreno ist Professor an der Pariser Sorbonne, wo er zur Entwicklung intelligenter Städte forscht. Er war Berater der Pariser Bürgermeisterin Anne Hidalgo, die die 15-Minuten-Stadt zu einem der zentralen Punkte ihres letzten Wahlkampfes im Jahr 2020 gemacht hat.

Sein Konzept der 15-Minuten-Stadt skizzierte Moreno in einem 2021 veröffentlichten Artikel in der Fachzeitschrift „Smart Cities“. Dort heißt es: „Das Hauptargument dieses Konzepts ist die auf Nähe basierende Planung, bei der ein Stadtviertel so geplant wird, dass es eine optimale Dichte aufweist, die den Zugang zu grundlegenden Dienstleistungen in einem Umkreis von 15 Minuten zu Fuß oder mit dem Fahrrad ermöglicht.“ Von zwangsweisen Einschränkungen der Mobilität oder Sanktionen für die Bewohnerinnen und Bewohner, wie in dem aktuell verbreiteten Video behauptet, ist hier nicht die Rede.

Carlos Moreno: Mobilität für alle Bewohnerinnen und Bewohner

Das bestätigte Carlos Moreno gegenüber AFP. Bei den Behauptungen aus dem aktuell geteilten Video handele es sich um „Lügen, Manipulationen und Falschbehauptungen“, schrieb er am 2. März 2023 in einer E-Mail auf AFP-Anfrage. „Die 15-Minuten-Stadt ist eine Vision und ein Stadtplanungsmodell, das für einen auf den Menschen ausgerichteten Urbanismus eintritt. Es handelt sich um einen Paradigmenwechsel von einem auf das Auto ausgerichteten Ansatz der Stadtplanung zu einem auf die Nähe ausgerichteten Ansatz, bei dem die Lebensqualität und die Nachhaltigkeit der Städte das Ziel sind.“

Niemand habe jemals davon gesprochen, die Bewegungsfreiheit von Menschen einzuschränken, erklärte Moreno. „Die Menschen können sich frei bewegen, wohin sie wollen und wann sie wollen.“ Vielmehr sollen in der 15-Minuten-Stadt mehr lokale Angebote entstehen, damit die Menschen sie mit weniger Fahrzeit erreichen können. Die vorhandene Infrastruktur solle besser genutzt werden, damit sich Menschen dort, wo sie leben, wohler fühlen. „Wir wollen weg von der erzwungenen Mobilität, bei der man weit fahren und wieder zurückkommen muss, weil man keine andere Wahl hat, und hin zu einer gewählten Mobilität, weil man es will“, schrieb Moreno.

Die 15-Minuten-Stadt sei keine allgemeingültige Regel, sondern ein allgemeines Modell, das an jeden lokalen Kontext angepasst werden könne und von den Initiativen lokaler Akteure inspiriert werde. „Bei der 15-Minuten-Stadt geht es nicht um Begrenzung oder Einschränkung, sondern darum, den Bürgern Zeit zu verschaffen. Es geht nicht darum, Bewegung zu verhindern, sondern darum, jedem die Möglichkeit zu geben, sich zu bewegen. Es geht darum, die langen und ermüdenden Fahrten zu beenden, die durch das derzeitige Stadtmodell erzwungen werden.“ Neben der Reduzierung des Autoverkehrs ziele das Konzept auch auf eine Aufwertung des öffentlichen Raumes ab.

Wien: Keine Sanktionen vorgesehen

Als Beispiel für eine Stadt, die sich am Konzept der 15-Minuten-Stadt orientiere, nennt das aktuell geteilte Video die österreichische Hauptstadt Wien. Die Bürgerinnen und Bürger sollen demnach eine ihnen zugewiesene Zone innerhalb der Stadt nicht mehr verlassen dürfen, wird in dem Clip behauptet.

Tatsächlich ist die österreichische Hauptstadt Wien neben Paris eine der Vorreiterstädte bei der Umsetzung des Konzepts der 15-Minuten-Stadt. Laut der Smart Klima City Strategie der Stadt, plant Wien unter anderem einen Ausbau der Radverkehrsinfrastruktur, Vorrang für den öffentlichen Nahverkehr sowie eine flächendeckende Verkehrsberuhigung. Ausgangssperren oder gar „Zonen“, die nicht verlassen werden dürfen, sind nicht vorgesehen.

Gabriele Berauschek ist die Referatsleiterin für Stadtentwicklung und Stadtplanung der Stadt Wien. In einer E-Mail vom 2. März 2023 an AFP weist sie die Behauptungen aus dem Video über die Smart Klima City Strategie der Stadt zurück: Es handele sich um „abstruse Unterstellungen und wirre Mutmaßungen“, die jeglicher Grundlage entbehrten. „Bei der Gestaltung der Stadtteile geht es lediglich darum, nach dem Konzept der 15-Minunten-Stadt zu planen, damit Bedürfnisse in nächster Nähe gedeckt werden können: Wohnen, Lernen und Arbeiten, Einkaufen und Gesundheitsversorgung, Freizeit- und Kulturangebote, Sport und Erholung.“

Die Strategie der Stadt ziele darauf ab, Bewusstsein für nachhaltige und ressourcenschonende Mobilität zu schaffen und Anreize zum Umsteigen auf umweltfreundliche Mobilitätsformen zu bieten, erklärte Berauschek. „Keinesfalls geht es dabei um Verbote, Einschränkungen oder gar Freiheitsentzug!“ Ein selbstbestimmtes Leben in der Stadt solle demnach auch ohne Auto möglich sein. Gleichzeitig soll durch mehr Grün, umweltfreundliche Verkehrsangebote und eine kompakte Stadtstruktur die Lebensqualität der Bewohnerinnen und Bewohner gesteigert werden.

Ähnlich äußerte sich Dirk Wittkowsky, Professor für Mobilitäts- und Stadtplanung an der Universität Duisburg-Essen. Wittkowsky forscht zu nachhaltiger Mobilität und Stadtentwicklung und erklärte in einer E-Mail vom 3. März 2023 gegenüber AFP zum Konzept der 15-Minuten-Stadt: „Es geht um die Verbesserung von Lebensqualität, Wohlbefinden und Aufenthaltsqualität für alle Menschen.“ Zudem müssten Städte und Kommunen weltweit die Nachhaltigkeitsziele einhalten und Emissionen reduzieren, was nur mit einer integrierten Stadt- und Verkehrsplanung funktioniere. „Bei der 15-Minuten-Stadt handelt es sich um Leitbild der Stadtplanung. Auf Grundlage dieses Konzepts können und sollen natürlich keine Sanktionen erlassen werden – warum auch?“, schrieb Wittkowsky.

Oxford: Verkehrsfilter hat nichts mit 15-Minuten-Stadt zu tun

Laut dem aktuell verbreiteten Video plane die englische Stadt Oxford, sechs Bezirke zu schaffen, in denen die wichtigsten Orte des täglichen Bedarfs in einer Viertelstunde erreichbar sind. Das Verlassen der jeweiligen Bezirke soll den Bewohnerinnen und Bewohnern nur mit Genehmigung der Stadtverwaltung an 100 Tagen im Jahr erlaubt sein. Die Autos der Bevölkerung würden dabei per Nummernschild überwacht.

Dieselbe Behauptung überprüfte AFP bereits im Dezember 2022 in einem eigenen Faktencheck. Tatsächlich hatte der Bezirksrat von Oxfordshire, in dem Oxford liegt, am 29. November 2022 ein fast 7,6 Millionen Euro schweres Programm zur Verkehrsregulierung beschlossen. Der private Autoverkehr auf viel genutzten Straßen soll versuchsweise zu Stoßzeiten beschränkt werden.

Wie der Bezirksrat auf seiner Website angibt, werden 2024 sechs „Verkehrsfilter“ auf den Straßen von Oxford eingesetzt werden, um den Verkehr zu reduzieren, Busfahrten zu beschleunigen und die Sicherheit von Radfahrenden und Passanten zu verbessern. Von einem Lockdown für die Bevölkerung ist dabei allerdings nicht die Rede.

Das bekräftigte eine Sprecherin des Bezirksrats auf AFP-Anfrage am 8. Dezember 2022: „Alle Teile der Stadt werden auch mit Privatfahrzeugen zugänglich sein, es wird keine elektronischen Tore oder physische Barrieren auf den Straßen geben.“ Auf der Website des Bezirksrats heißt es zudem, die Idee des 15-Minuten-Viertels ziele darauf ab, zu gewährleisten, dass alle Bürgerinnen und Bürger wichtige Dinge wie Supermärkte, gesundheitliche Versorgung oder Parks innerhalb von 15 Minuten Fußweg in ihrer Umgebung erreichen könnten.

Corona-Pandemie als Motor der 15-Minuten-Stadt

Das Konzept der 15-Minuten-Stadt hat in der Corona-Pandemie neuen Auftrieb bekommen. Es sind jedoch nicht die Lockdowns und Ausgangssperren, die in einigen Ländern verhängt wurden, die in diesem Zusammenhang als Vorbild dienen, wie in dem aktuell geteilten Video behauptet wird.

Vielmehr hätten die Erfahrungen aus der Pandemie gezeigt, dass viele Menschen durch eine andere Art des Arbeitens tägliche lange Fahrten vermeiden und so wertvolle Zeit sparen konnten, wie Carlos Moreno gegenüber AFP erklärte. „Auf die gleiche Weise haben viele Menschen ihre Nachbarn, ihre örtlichen Geschäfte und ihre Grünflächen besser kennen gelernt. Viele Städte haben Fahrradwege, die ‚Corona-Strecken‘, eingeführt, die geblieben sind. Auch die CO2-Emissionen sind deutlich zurückgegangen.“

Das globale Städtenetzwerk für das Klima, die C40, habe daraufhin eine Arbeitsgruppe unter dem Namen „Covid-19 Recovery Task Force“ ins Leben gerufen und die 15-Minuten-Stadt als Schlüsselkonzept gewählt, um den Städten mehr Impulse zu geben, ihren Lebensstil zu ändern und wohlhabender, lebendiger und grüner zu werden.

Fazit: Das Konzept der 15-Minuten-Stadt sieht keine Einschränkung der Freiheit und Mobilität ihrer Bewohnerinnen und Bewohner vor. Das städtebauliche Konzept möchte lebenswerte, gesunde und nachhaltige Stadtviertel schaffen, in denen alle Bewohnerinnen und Bewohner die Möglichkeiten haben, kurze Wege zur Arbeit, zur Schule, zum Einkaufen oder zur Freizeitgestaltung auch ohne das eigene Auto zu nutzen.

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Politik, Wirtschaft, Gesellschaft, Verbraucher

Autor(en): Feliks TODTMANN / AFP Deutschland

Ursprünglich hier veröffentlicht.

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