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Dokument zu KZ-Todesopfern als Holocaust-Leugnung missbraucht

Die Nationalsozialisten und Nationalsozialistinnen töteten während des Holocaust rund sechs Millionen Jüdinnen und Juden. Diese Zahl wird immer wieder angezweifelt. Online wird dazu ein Dokument von Todesbescheinigungen herangezogen, das jedoch nicht aussagekräftig für die Gesamtopferzahl ist, wie die ausstellende Behörde selbst bestätigte. Nur für einen Teil der Opfer sei so eine Bescheinigung ausstellbar, da viele Morde auch außerhalb von Lagern stattfanden oder Nationalsozialisten wichtige Dokumente vernichteten. Auch das Rote Kreuz, das in manchen Beiträgen als Quelle zitiert wird, erklärte gegenüber AFP, dass es „den Holocaust als Tatsache anerkennt“ und die Zahl der Todesopfer nicht bestreite.

„Die erste Holocaust-Lüge wurde durch das Rote Kreuz bestätigt. Es waren keine 6.000.000!!!“, heißt es in einem Facebook-Post vom Juni 2018. Darin enthalten ist ein Dokument mit Todesopfern aus NS-Konzentrationslagern des Sonderstandesamtes Arolsen.

Beiträge wie diese kursieren auch auf Telegram sowie auf anderen Sprachen wie Ungarisch oder auf englischen antisemitischen Websites und im Zusammenhang mit Holocaust-Leugnungen auf X.

In den Beiträgen werden Dokumente des Sonderstandesamtes Arolsen aus den Jahren 1979 und 1984 geteilt. Die Behörde ist für die Beurkundung von Todesfällen der Häftlinge von NS-Konzentrationslagern zuständig und wurde 1949 eingerichtet. Die Dokumente enthalten jeweils eine Tabelle mit den beurkundeten Sterbefällen in den Lagern. Anhand dieses Dokuments wurde behauptet, dass die Gesamtzahl der Todesopfer des Holocaust geringer war als 6 Millionen. Beide Dokumente sind echt.

Facebook-Screenshot der Behauptung: 2. Februar 2024

In den Dokumenten wird jedoch lediglich im Zusammenhang mit den bescheinigten Todesfällen das Wort „beurkundet“ verwendet, nicht in Bezug auf die Gesamtzahl der Todesfälle. Auch das Dokument von 1984 verwendet diese Formulierung. Darunter schließt sich dort allerdings folgende Warnung an: „Die Beurkundungszahlen des Sonderstandesamtes laßen keine Rückschlüsse auf die tatsächliche Zahl der Toten in den Konzentrationslagern zu.“

Ausschnitt des Dokuments: 6. Februar 2024

Heike Rummel-Stracke, Standesbeamtin beim Sonderstandesamt, erklärte in einer E-Mail vom 29. Januar 2024: „Wir werden häufig nach der Zahl der beurkundeten Sterbefälle des Sonderstandesamtes gefragt, teilweise weil man anhand unserer Unterlagen auf die Zahl der Sterbefälle in den ehemaligen Konzentrationslagern insgesamt schließen will.“

„Diese Schlussfolgerung lassen unsere Zahlen nicht zu“, erklärte Rummel-Stracke und fügte hinzu, dass das Amt nur Sterbefälle beurkunde, „die, wie es das Personenstandsgesetz fordert, zweifelsfrei feststehen“. Die bloße Vermutung des Todes sei nicht ausreichend.

„Beweiskräftige Unterlagen für die Beurkundung von Sterbefällen zu erhalten ist jedoch schwer, weil in den letzten Kriegstagen viele davon vernichtet wurden“, erklärte sie. Zudem seien einige Sterbefälle „seinerzeit von den Standesämtern des Sterbeortes beurkundet“ worden. Auch Todesfälle aus den Ghettos, in denen Jüdinnen und Juden leben mussten, fielen laut Rummel-Stracke nicht in den Zuständigkeitsbereich des Sonderstandesamtes.

Die Hessenschau erläuterte im März 2023 in einem Artikel über das Sonderstandesamt, dass es sich aufgrund der engen Zusammenarbeit mit den Arolsen Archives in Bad Arolsen befinde. Dem Artikel zufolge habe das Amt bislang insgesamt 350.000 Sterbefälle beurkundet.

Aufgabe womöglich niemals abgeschlossen

Die Arolsen Archives bezeichnen sich auf ihrer Website als „das internationale Zentrum über NS-Verfolgung mit dem weltweit umfassendsten Archiv zu den Opfern und Überlebenden des Nationalsozialismus“, das Informationen „zu rund 17,5 Millionen Menschen“ enthält.

Die Organisation erklärte in einer E-Mail vom 24. Januar 2024 gegenüber AFP, dass „das Sonderstandesamt bis heute hauptsächlich, aber nicht ausschließlich, auf die Sammlungen der Arolsen Archives zurückgreift“, um Todesbescheinigungen auszustellen.

Die Arolsen Archives bekräftigten zudem die Aussage des Sonderstandesamtes, dass „die Ausstellung einer förmlichen Sterbeurkunde für Opfer der nationalsozialistischen Konzentrationslager nur dann möglich war und ist, wenn individuelle Unterlagen zu einzelnen Opfern vorliegen, das heißt Dokumente, die zumindest ansatzweise die Einzelheiten des Todes einer Person in einem Konzentrationslager beschreiben“. Dies werde dadurch erschwert, dass „viele KZ-Akten und andere physische Beweise zu einzelnen Häftlingen von den Nazis vor der Befreiung vernichtet wurden, um jeden Beweis für die begangenen Verbrechen auszulöschen“.

Zudem seien „Konzentrationslager bei Weitem nicht der einzige Ort“ gewesen, „an dem Massenmord stattfand; die Massenerschießungen [Link von AFP hinzugefügt] von Jüdinnen und Juden in Osteuropa sind nur ein Beispiel dafür“, so die Arolsen Archives weiter. „Auch wurden Opfer, die sofort nach ihrer Ankunft in Vernichtungslagern wie Auschwitz-Birkenau getötet wurden, von den Nazis überhaut nicht registriert, sodass es keine greifbaren Spuren von einzelnen Opfern an diesen besonderen Orten des Tötens gibt.“

Die Arolsen Archives erklärten außerdem, dass das Ausstellen von Sterbeurkunden bis heute fortgesetzt wird. Dass sich die Gesamtzahl im Laufe der Zeit ändert, lässt sich daran erkennen, dass die Zahl der für jedes Lager ausgestellten Bescheinigungen im Dokument von 1984 höher ist als in dem Dokument aus dem Jahr 1979. Die Zahlen des Sonderstandesamtes „werden in absehbarer Zeit nicht vollständig sein (wahrscheinlich nie)“, erklärte die Organisation.

Während der Holocaust die Bezeichnung für den nationalsozialistischen Völkermord an den Juden ist, weisen die Arolsen Archives darauf hin, dass „sich die vom Sonderstandesamt ermittelten Zahlen nicht einmal ausschließlich auf jüdische Opfer beziehen, sondern auf eine Vielzahl von Gruppen und Einzelpersonen, die in den Lagern starben: Die Nazis verfolgten und ermordeten auch Kommunisten sowie andere politische Gegner, Sinti und Roma, Homosexuelle, Zeugen Jehovas und viele andere“.

„Diese Menschen existierten und lebten“

Das Sonderstandesamt erklärte gegenüber AFP, dass das Dokument von 1979 zwar tatsächlich von ihnen verschickt wurde. In manchen Versionen auf einigen Sprachen wurden jedoch einzelne Sätze ergänzt. Außerdem war das Original Teil eines längeren Austauschs, in dem das Amt zuvor davor gewarnt hatte, dass die Zahlen keine Rückschlüsse auf die Gesamtzahl der Todesfälle zulassen würden.

Eine der auf Englisch hinzugefügten Passagen lautet „Von: Internationales Rotes Kreuz, Arolsen, Westdeutschland“. Dies ist vermutlich eine Anspielung darauf, dass das Internationale Komitee vom Roten Kreuz (IKRK) bis 2012 tatsächlich die Arolsen Archives und seine Vorgängerorganisation, den Internationalen Suchdienst, verwaltet hat, wie das IKRK auf seiner Website erläutert.

Das IKRK hat sich bereits zu den Behauptungen geäußert, beispielsweise in einem Beitrag der britischen Faktencheck-Organisation Full Fact von 2019. Fatima Sator, Sprecherin des IKRK, bestätigte zudem gegenüber AFP in einer E-Mail vom 26. Januar 2024: „Das IKRK erkennt den Holocaust als Tatsache an und bestreitet in keiner Weise die offizielle Zahl der Todesopfer.“

Sator erklärte ebenfalls, dass den Arolsen Archives über einige Opfer detaillierte Informationen fehlen. Zum Beispiel wurden diejenigen, die „direkt in den Tod nach Auschwitz, Chelmno, Sobibor, Treblinka, Majdanek , … geschickt wurden, überhaupt nicht registriert, weder lebend noch tot“.

„Das IKRK hat keine Zahlen oder Verzeichnisse zu diesen Opfern, bezweifelt aber nicht, dass all diese Menschen existierten und lebten, bevor sie auf tragische Weise ermordet wurden“, erklärte Sator.

Das IKRK hat sich mit der Kontroverse über seine Rolle während des Zweiten Weltkriegs öffentlich auseinandergesetzt, zum Beispiel in diesem Artikel aus dem Jahr 2020, der vor dem Jahrestag der Befreiung von Auschwitz veröffentlicht wurde. Darin heißt es, dass der Jahrestag „ein Versagen“ des IKRK markiert, „das Versagen, den Millionen von Menschen, die in den Todeslagern vernichtet wurden, zu helfen und sie zu schützen. Das IKRK hat sein Bedauern über seine Ohnmacht und die Fehler, die es im Umgang mit der nationalsozialistischen Verfolgung und dem Völkermord gemacht hat, öffentlich zum Ausdruck gebracht.“

„Eines der am besten erforschten Ereignisse der Vergangenheit“

Auf der Website des United States Holocaust Memorial Museum (USHMM) heißt es: „Die Nazis und ihre Verbündeten und Kollaborateure töteten sechs Millionen jüdische Menschen. Dieser systematische, staatlich geförderte Völkermord ist heute als Holocaust bekannt. Die Nazis und ihre Verbündeten und Kollaborateure begingen auch andere massenhafte Gräueltaten. Sie verfolgten und töteten während des Zweiten Weltkriegs Millionen von nicht-jüdischen Menschen.“

Wie das Museum erläutert, fanden die Morde an verschiedenen Orten statt, einige davon in Konzentrationslagern, andere in Vernichtungslagern. Millionen Menschen wurden aber auch in Städten und Dörfern ermordet.

Zwar versuchten die Nationalsozialisten und Nationalsozialistinnen, die Beweise für ihre Gräueltaten zu vernichten, jedoch „war der Massenmord der Nazis so umfangreich und zerstörerisch, dass es unmöglich war, die Verbrechen vollständig zu vertuschen und die Beweise zu vernichten. Es war offensichtlich, dass Millionen von Menschen tot waren und ganze Gemeinden vermisst wurden“, erklärt das USHMM. Zeugen und Dokumente belegen die Morde und die Auslöschung großer Bevölkerungsgruppen.

Offiziellen Zahlen zufolge lebten vor dem Krieg elf Millionen Jüdinnen und Juden in Europa, schrieb der SWR. Nach dem Krieg betrug diese Zahl fünf Millionen. Wie in dem Artikel erläutert, schätzten die Nationalsozialisten selbst die Zahl der ermordeten Jüdinnen und Juden 1944 auf über fünf Millionen, ein Jahr vor dem Ende des Dritten Reichs.

IKRK-Sprecherin Sator nannte als Beispiel „die Existenz der Listen der Jüdinnen und Juden, die aus dem besetzten Frankreich und der Tschechoslowakei in die polnischen Lager deportiert wurden. Die Zahl der bei der Ankunft registrierten Personen ist gering im Vergleich zu jener Zahl, die diejenigen erfassten, die sie in die Züge setzten.“

In Deutschland lebten 1933 rund 500.000 Jüdinnen und Juden, circa 250.000 von ihnen wanderten bis 1939 aus. Ungefähr 165.000 wurden von den Nationalsozialisten in Deutschland ermordet, schlüsselt die Bundeszentrale für politische Bildung auf ihrer Website auf.

„Der Holocaust ist eines der am besten erforschten Ereignisse der Vergangenheit. Trotz des Mangels an Unterlagen, die sich speziell auf den Tod einzelner Opfer beziehen (wie oben dargelegt), wurde das Ausmaß der nationalsozialistischen Verfolgung und Ermordung von Wissenschaftlern und Regierungsstellen anhand einer Fülle von Unterlagen, einschließlich Deportationslisten, Volkszählungsberichten, Nachkriegsuntersuchungen und anderen glaubwürdigen Informationsquellen, akribisch und wiederholt rekonstruiert“, fügten die Arolsen Archives hinzu. „An der Zahl der Opfer gibt es keinen Zweifel.“

„Wenn überhaupt, waren frühere Schätzungen möglicherweise zu konservativ, wobei die weitere historische Forschung über das Ausmaß der NS-Verbrechen ein fortlaufender Bereich der Untersuchung ist. Revisionisten versuchen dennoch, die NS-Verbrechen zu leugnen oder die historisch anerkannte Zahl der Opfer zu senken“, erklärte die Organisation.

Fazit: Die in sozialen Medien geteilten Dokumente zu Todesopfern in NS-Konzentrationslagern sind keine Belege dafür, dass die Zahl der ermordeten Menschen im Holocaust niedriger ist als sechs Millionen. Sowohl das ausstellende Sonderstandesamt Arolsen als auch die Arolsen Archives sowie das IKRK bestätigten, dass von den Dokumenten nicht auf die Gesamtzahl der Todesopfer geschlossen werden kann.

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Politik, Wissenschaft

Autor(en): Ede ZABORSZKY / Johanna LEHN / AFP Ungarn

Ursprünglich hier veröffentlicht.

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