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Falsch. Polen hat keine solchen Pläne. Die Geschichte stammt von einer Fake-News-Seite.
Fakten
Am 29. Oktober 2022 berichtet die russische staatliche Nachrichtenagentur Ria Nowosti, in Polen gäbe es angeblich Pläne, die West-Ukraine zu erobern und ein Referendum über den Beitritt der besetzten Gebiete zum EU-Land abzuhalten. Auch der in Deutschland gesperrte russische Staatssender RT Deutsch, der im Westen als Propagandainstrument des Kremls gilt, berichtet über die vermeintlichen Absichten Warschaus.
Verwiesen wird dabei von beiden auf Angaben der Internetseite «Modern Diplomacy» – ein von der Aufmachung her zunächst offenbar seriöses belgisches Online-Magazin, das mindestens seit 2013 im Netz zu finden ist. Es wird der Anschein erweckt, selbst ein EU-Medium berichte über das Vorhaben. Doch dieser Eindruck täuscht, wie unter anderem der Reporter der Investigativ-Plattform Bellingcat, Christo Grozev, ausführlich analysiert.
Doch der Reihe nach. In einem vier Tage später gelöschten (aber hier archivierten) Bericht vom 27. Oktober 2022, der aktuell weiter als Screenshot in sozialen Medien massiv herumgereicht wird, heißt es bei «Modern Diplomacy»: Die polnische Regierungspartei Recht und Gerechtigkeit (PiS) bereite die Einverleibung der «westlichen Randgebiete» der Ukraine vor. «Der PiS-Plan, die Republik Polen in den Grenzen der „historischen Gebiete“ wiederauferstehen zu lassen, scheint lange vor der russischen Militäroperation in der Ukraine Gestalt angenommen zu haben», schreibt das Magazin – und verbreitet es so auch auf Facebook.
Mit «historischen Gebieten» ist gemeint, dass Polen vor dem deutschen Überfall im Jahr 1939 Regionen umfasste, die teilweise heute zur Ukraine gehören.
«Modern Diplomacy» ist keine glaubwürdige Quelle. Das Portal beschreibt sich selbst als «außerordentlich wertvolle Plattform für die Bewertung und Beurteilung komplexer internationaler Themen, die oft außerhalb der Grenzen westlicher Mainstream-Medien und Wissenschaft liegen». Eine solches Statement und diese Wortwahl sollten bereits an der Seriosität des Portals zweifeln lassen.
Am Ende des Artikels über die angeblichen Pläne Warschaus verlinkt «Modern Diplomacy» auf den gleichlautenden Text auf einer Seite namens «International Affairs», der dort am 26. Oktober veröffentlicht wurde. Die Plattform und das dazugehörige Print-Produkt werden vom russischen Außenministerium herausgegeben, heißt es in der Selbstbeschreibung.
«International Affairs» wiederum verweist auf das polnische Portal «Dziennik Polityczny» (teilweise auch als «Niezalezny Dziennik Polityczny» bekannt). Dort erschien die Story am 19. Oktober unter einer Überschrift, die so viel bedeutet wie: «Europäische Hyänen haben bereits damit begonnen, das Aas zu teilen. Die Hilfe [gemeint ist: die Hilfe der EU] für die Ukraine war keineswegs uneigennützig.»
Bei «Dziennik Polityczny» handelt es sich um eine Desinformationsseite, die schon häufiger von polnischen Faktencheckern der Lüge überführt wurde – etwa von «Demagog Association» oder von «Przeciwdzialamy Dezinformacji». Nach Angaben des polnischen Portals «True Story» verbreitet «Dziennik Polityczny» seit Jahren russische Propaganda.
Investigativ-Reporter etwa von «VSquare», «Re:Baltica» oder «Oko Press» beschreiben in ihren Artikeln eine Verbindung zu russischen Geheimdiensten.
Die Köpfe hinter «Dziennik Polityczny» sind nicht bekannt. Der Link der Internetseite auf ein angebliches Twitter-Profil führt auf ein gesperrtes Konto. Von dem auf dem Online-Portal angegebenen angeblichen Chefredakteur Adam Kaminski gab es etwa im Mai 2020 noch einen Twitter-Account. Doch auch dieses Profil ist heutzutage gesperrt. Es war allerdings schon früher Fake. Denn das angebliche Profil-Foto Kaminskis zeigte eigentlich einen Orthopäden an einem litauischen Krankenhaus.
Zusammengefasst: Die völlig unbelegte Information einer dubiosen Quelle hat sich über verschiedene Kanäle und Verlinkungen verselbstständigt – ausgehend von einer polnischen Fake-News-Seite über eine Plattform, die vom russischen Außenministerium betrieben wird, zu einer belgischen Desinformationsseite – und schlussendlich in die Berichterstattung einer russischen Nachrichtenagentur.
Das Phänomen, eine Falschinformation auf diese Weise zu streuen, ist nicht neu. «Viele unterschiedlich aussehende, gefälschte Websites zu unterhalten anstatt einiger weniger populärer hat ein bestimmtes Ziel: den Eindruck zu erwecken, dass eine bestimmte Desinformationsgeschichte «überall in den Nachrichten» ist», beschreibt etwa das bulgarische Medien-Monitoring-Unternehmen Sensika eine solche Strategie.
In Polen ist diese Art der pro-russischen Propaganda bereits bekannt. Im Juni berichtete das Nachrichten-Portal «WP Wiadomosci» über den Vorwurf des russischen Außenministers, Sergej Lawrow, Polen wolle Teile der West-Ukraine erobern. In dem Artikel wird klargestellt, dass dies russische «Erfindungen» waren. Im aktuellen Fall ist in polnischen Medien kein Bericht über die angeblichen Pläne zu finden – ein weiterer Hinweis dafür, dass an der Sache selbst nichts dran ist.
Zudem gibt es keinerlei Statement der polnischen Regierung oder des Präsidenten zu diesem Vorwurf oder Sachverhalt. Zuletzt hatte Präsident Andrzej Duda in einem Interview gesagt: «Wir wissen, dass für die Sicherheit Europas der russische Imperialismus gestoppt werden muss. Das bedeutet für mich die Verdrängung Russlands von den international anerkannten Grenzen der Ukraine.» Die Aussage unterstreicht, dass Polen die ukrainischen Grenzen anerkennt.
Pro-russische Trolle versuchen also, Polen einen geplanten Einmarsch in die Ukraine zu unterstellen. Dabei ist es Russland selbst, das sich seit seinem Überfall auf den Nachbarn Gebiete der Ukraine einverleibt hat. Ende September besiegelte Kremlchef Wladimir Putin die Annexion der besetzten Regionen Luhansk, Donezk, Saporischschja und Cherson. International wird dies indes nicht anerkannt.
(Stand: 3.11.2022)