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Für diesen Selenskyj-Tweet zur türkischen Unterstützung der Ukraine gibt es keine Belege

Kurz nach dem tödlichen Erdbeben, das am 6. Februar 2023 die Türkei und Syrien erschütterte, übermittelte der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj seinem türkischen Amtskollegen via Twitter sein Beileid. Die Ukraine werde zudem Rettungskräfte und Ausrüstung entsenden, um bei den Bergungsarbeiten zu helfen, versprach er. Online verbreitet sich ein Screenshot eines angeblichen Selenskyj-Tweets, in dem der ukrainische Präsident neben seiner Beileidsbekundung die Fortsetzung der türkischen Unterstützung für die Ukraine fordert. Tatsächlich finden sich jedoch keine Belege für eine solche öffentliche Äußerung Selenskyjs.

Seit Anfang Februar 2023 kursiert ein Screenshot in sozialen Netzwerken, der einen angeblichen Tweet des ukrainischen Präsidenten Selenskyj zeigen soll. Demnach habe Selenskyj in einem Post auf Twitter nicht nur sein Beileid anlässlich des verheerenden Erdbebens bekundet, sondern auch die Fortsetzung der türkischen Hilfe für die Ukraine gefordert. Der Beitrag fand sich auf Facebook, Twitter und Telegram und wurde auch auf Bulgarisch, Englisch, Polnisch, Rumänisch, Russisch, Slowakisch und Tschechisch geteilt.

Die Behauptung: Die aktuell geteilten Beiträge zeigen einen Screenshot zweier Tweets des ukrainischen Präsidenten Selenskyj. Der obere Tweet ist in ukrainischer Sprache verfasst und enthält eine türkische als auch eine ukrainische Flagge. Im Postingtext findet sich die angebliche deutsche Übersetzung des ukrainischen Textes: „Mein Beileid an alle Türken. Ich bin sicher, dass sie alles überwinden können und die Hilfslieferungen an die Ukraine nicht aufhören werden.“ User kritisieren die angebliche Forderung als geschmacklos: „Selbst in seinem Beileid an seine türkischen Verbündeten zu den Opfern der gestrigen Erdbeben vergaß Zelensky nicht, ihn daran zu erinnern, dass er noch mehr Waffen brauchte.“

Screenshot der Behauptung auf Facebook: 13. Februar 2023

Am Morgen des 6. Februar 2023 hatte ein Erdbeben der Stärke 7,8 das türkisch-syrische Grenzgebiet erschüttert. Zehntausende Menschen wurden beim Einsturz ihrer Häuser getötet und verletzt. Die Zahl der Todesopfer in beiden Ländern stieg bis zum 14. Februar 2023 auf mehr als 35.000. Nach Angaben der Weltgesundheitsorganisation (WHO) könnten bis zu 23 Millionen Menschen in beiden Ländern von den Folgen des Bebens betroffen sein, berichtete AFP.

Zu dem verheerenden Erdbeben kursieren zahlreiche Falschmeldungen in sozialen Netzwerken. AFP überprüfte in diesem Zusammenhang diese alten Aufnahmen einer Explosion in Beirut, diese alten Bilder von Rettungshunden (hier, hier) oder diese Videos eines angeblichen Tsunamis, der nach dem Beben entstanden sein soll.

Auch der ukrainische Präsident Selenskyj wird im Zuge des russischen Angriffskrieges gegen sein Land immer wieder zum Ziel von Desinformation im Netz. AFP überprüfte bereits diese Reihe gefälschter Titelbilder des französischen Satiremagazins „Charlie Hebdo“ oder diese Serie gefälschter Selenskyj-Karikaturen. Faktenchecks zum Krieg in der Ukraine sammelt AFP hier.

Foto von AFP: Angehörige von Opfern am 9. Februar 2023 vor den Trümmern eingestürzter Gebäude in der türkischen Stadt Kahramanmaras

Auf Selenskyjs offiziellem Twitteraccount fand sich der angebliche Tweetnicht. Vielmehr erklärte der ukrainische Präsident am Morgen des 6. Februar 2023, dem Tag des Erdbebens, in einer Kondolenzbotschaft per Twitter: „Ich spreche dem Präsidenten @RTErdogan, dem Volk und den Familien der Opfer des Erdbebens im Südosten der Türkei mein aufrichtiges Beileid aus. Ich wünsche allen Opfern eine rasche Genesung. Wir werden dem türkischen Volk in dieser schwierigen Zeit zur Seite stehen. Wir sind bereit, die notwendige Hilfe zu leisten, um die Folgen der Katastrophe zu überwinden.“

 

Später verkündete Selenskyj, eine Gruppe ukrainischer Rettungskräfte in die betroffenen Gebiete zu entsenden und telefonierte mit dem türkischen Präsidenten Recep Tayyip Erdogan.  Nach Angaben des staatlichen Katastrophenschutzdienstes der Ukraine traf das Team von 87 Rettungskräften am 8. Februar 2023 auf dem Flughafen von Gaziantep ein. Die Türkei steht sowohl Kiew als auch Moskau nahe und fungiert seit dem russischen Einmarsch in die Ukraine im Februar 2021 als Vermittler zwischen beiden Ländern.

Keine Ergebnisse in Online-Archiven

Selenskyjs Twitteraccount wurde seit dem Erdbeben in der Südtürkei und Syrien mehrfach im Internetarchiv Wayback Machine archiviert (wie sich alte Versionen von Websites finden lassen, erklärt AFP hier). Auch in den archivierten Versionen des Account fand sich kein Hinweis darauf, dass ein solcher Tweet jemals veröffentlicht wurde.

Weder im Google-Cache, einer Art gespeicherter Kopie einer Webseite, seines Twitteraccounts, noch in der Datenbank PolitiTweet, einem Archiv gelöschter Aussagen von Politikerinnen und Politiker auf Twitter, war der vermeintliche Twitter-Post zu finden.

Auch eine Google-Suche nach dem Wortlaut des angeblichen Tweets auf Englisch, Ukrainisch und Türkisch brachte keine Ergebnisse oder Presseberichte vertrauenswürdiger Medien. Dabei hätte ein solcher Tweet sicher die Aufmerksamkeit der Medien gefunden.

Fragwürdige zeitlicher Ablauf

Es scheint höchst unwahrscheinlich, dass der Tweet von Selenskyjs Konto veröffentlicht wurde, nur um ihn kurz darauf wieder zu löschen, auch wenn das rein theoretisch möglich wäre. Das dies nicht der Fall war, darauf deuten die archivierten Versionen von Selenskyjs Account vom 6. Februar 2023 im Internetarchiv Wayback Machine hin. Die archivierte Version von 1.47 Uhr (Zeitangaben in GMT) zeigt keine neuen Tweets von diesem Tag. Der letzte sichtbare Tweet in dieser gespeicherten Version stammt vom 4. Februar 2023 und betrifft Selenskyjs Gespräch mit dem britischen Premierminister Rishi Sunak über die Ausbildung ukrainischer Truppen an Challenger-Panzern.

In der nächsten archivierten Version des Twitteraccount von 7.34 Uhr tauchen Selenskyjs Beileidsbekundungen nach dem Erdbeben auf, die zunächst um 6.30 Uhr auf Türkisch und dann um 7.07 Uhr auf Ukrainisch gepostet wurden. Auf dem aktuell geteilten Screenshot findet sich oben rechts der Zeitstempel „4ч“, was darauf hindeutet, dass der angebliche Tweet vier Stunden vor der Aufnahme durch den Autor des angeblichen Screenshots veröffentlicht wurde. Der Buchstabe „ч“ wird im Russischen als Abkürzung für die Stunde (час/chas) verwendet.

Screenshot des angeblichen Selenskyj-Tweets, der Zeitstempel ist rot markiert: 9. Februar 2023 (Hervorhebungen durch AFP)

Daraus lässt sich schlussfolgern, dass Selenskyj den angeblichen Tweet hypothetisch nur zwischen 1.47 und 2.30 Uhr veröffentlicht haben könnte, also sehr kurz nach den ersten aufgezeichneten Erschütterungen bei Gaziantep um 1.17 Uhr.

Selbst der türkische Präsident Erdogan twitterte die ersten Beiträge zum Erdbeben deutlich später um 2.34 Uhr Uhr. Andere namhafte Staatsoberhäupter haben sich auch erst später auf Twitter zu Wort gemeldet. So twitterte beispielsweise Jake Sullivan, der nationale Sicherheitsberater von US-Präsident Biden, um 4.41 Uhr Uhr und Janez Lenarčič, EU-Kommissar für Krisenmanagement, postete seine Nachricht über die Entsendung von Rettungsteams aus Europa um 7.07 Uhr. Der französische Präsident Emmanuel Macron bekundete sein Beileid um 8.10 Uhr und der armenische Präsident Nikola Pashinyan um 8.57 Uhr. Der deutsche Bundeskanzler Olaf Scholz sicherte um 9.24 Uhr Hilfe zu.

Wäre der aktuell geteilte Screenshot echt, müsste Selenskyj lange vor allen anderen Staatsoberhäuptern der Welt, sogar vor dem türkischen Präsidenten selbst, zu dem Beben getwittert haben. Zudem wären mehr als vier Stunden bis zu seinem Kondolenztweet um 6.30 Uhr vergangen.

Verdächtige Schriftarten

AFP verglich zudem die Schrift auf dem aktuell geteilten Screenshot und Selenskyjs echtem Tweet und stellte fest, dass die Schriftart auf dem geteilten Bild nicht mit den von Twitter genutzten Schriftarten übereinstimmt. Das heißt, die Schriftart für ukrainisches Kyrillisch auf dem aktuell geteilten Screenshot entspricht nicht der Schriftart, wie sie normalerweise auf Twitter angezeigt wird.

Mehrere Wörter tauchen sowohl in dem aktuell geteilten Bild als auch in dem echten Kondolenz-Tweet auf:“допомоги“ (Hilfe), „народу“ (Nation) und „співчуття“ (Beileid).

Same words marked by red by AFP in the shared image (left) and in the screenshot of real Zelensky’s tweet (right). Made on 10 February 2023

Bei bestimmten Buchstaben wie „д“, „я“, „л“, „м“ oder dem doppelten „т“ sind Unterschiede in der Typografie zu erkennen, was darauf hindeutet, dass der aktuell geteilte Screenshot manipuliert worden sein könnte.

Vergleich einzelner Worte und Buchstaben im aktuell geteilten Screenshot (links) und im echten Selenskyj-Tweet (rechts): 9. Februar 2023 (Hervorhebungen durch AFP)

AFP hat unterschiedliche Twitter-Versionen in verschiedenen Browsern und auf verschiedenen Geräten und Betriebssystemen betrachtet, konnte aber keine Version finden, in der die angegebenen ukrainischen Zeichen in der gleichen Art und Weise und in der gleichen Form wie auf dem freigegebenen Bild angezeigt wurden. Möglicherweise lassen individuelle Telefon- oder Tableteinstellungen aber auch andere Schriftarten zu.

Fazit: Es gibt keine Belege dafür, dass der ukrainische Präsident einen Kondolenztweet nach dem Erdbeben in der Türkei und Syrien mit der Forderung nach türkischer Unterstützung der Ukraine verbunden hat. Der Zeitstempel des angeblichen Tweets sowie die darin verwendete Schriftart deuten vielmehr auf eine Fälschung hin.

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Politik, Ukraine, Katastrophen

Autor(en): Robert BARCA, Feliks TODTMANN, AFP Slowakei

Ursprünglich hier veröffentlicht.

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