Bei der EU-Wahl am 9. Juni 2024 können fast 65 Millionen Menschen in Deutschland wählen. Online wird aktuell fälschlich behauptet, eine Stimmabgabe sei strafbar. Als vermeintlicher Beleg dient ein Urteil des deutschen Bundesverfassungsgerichts aus 2012. Diese Entscheidung hat aber gar nichts mit der EU-Wahl zu tun und bezog sich lediglich auf die Sitzverteilung im Bundestag.
„Wer Wählen geht macht sich Strafbar nach Bundesverfassungsgericht. Auch die Wahlhelfer. Ihr könnt jeden einzelnen anzeigen“, schrieb ein User am 4. Juni 2024 auf Facebook. Grundlage sei ein Urteil des deutschen Bundesverfassungsgerichts aus dem Jahr 2012, wonach das Bundeswahlgesetz „grundgesetzwidrig“ sei. „#Europawahl Jeder der Wählen geht leistet eine Beihilfe zur einer #Straftat nach §27 StGB“, heißt es in einem anderen Posting, das User nur wenige Tage vor der EU-Wahl im Juni 2024 zahlreich auf Facebook verbreiten.
Die Behauptung kursiert aktuell zudem auf Telegram. Bereits im Jahr 2019 wurde unter Bezugnahme auf das Gerichtsurteil auch auf X behauptet, dass Wählen eine „Straftat“ sei.
Falschmeldungen über Wahlen gibt es immer wieder. AFP überprüfte bereits Behauptungen über dasselbe Urteil von 2012, wonach das Gericht in Karlsruhe damit alle deutschen Wahlen für nichtig erklärt habe. Das ist falsch.
Generell verbreiten Nutzerinnen und Nutzer immer wieder Behauptungen, die die Legitimität der Bundesrepublik Deutschland und ihrer Gesetze untergraben sollen. AFP hat etwa bereits die Aussage entkräftet, Deutschland sei nach wie vor ein besetztes Land.
Urteil aus 2012 betraf Sitzzuteilung bei Bundestagswahlen
Im Juli 2012 erging eine Entscheidung des deutschen Bundesverfassungsgerichts zum Sitzzuteilungsverfahren für die Wahlen zum Bundestag. Das Gericht erklärte das Verfahren in seinem Urteil in Teilen als verfassungswidrig, da es gegen die Grundsätze der Gleichheit und Unmittelbarkeit der Wahl sowie die Chancengleichheit der Parteien verstoße.
Beanstandet wurde der Effekt des sogenannten negativen Stimmgewichts. Dieser kann bedingen, dass eine Stimme einer Partei bei der Berechnung der Abgeordnetenzahl letztlich schadet. Das kann durch das Zusammenspiel von Überhangmandaten und der Verrechnung der Stimmen von Landeslisten passieren. Das erklärte auch die deutsche Bundeswahlleiterin, die die ordnungsgemäße Durchführung der Bundestagswahl überwacht, auf ihrer Website. Mittlerweile beschloss der Bundestag eine Wahlrechtsreform, nach der solche Mandate anders verteilt werden.
In einem Video erklärt die Bundeszentrale für politische Bildung diesen Effekt und die Entscheidung des Bundesverwaltungsgerichts genauer:
Fachleute bezeichnen Behauptung als „Blödsinn“
In dem angeführten Urteil aus 2012 kommt allerdings keine Passage vor, aus der hervorgeht, dass eine Stimmabgabe bei der EU-Wahl oder anderen Wahlen in Deutschland strafbar sei. Michael Brenner, der den Lehrstuhl für Deutsches und Europäisches Verfassungs- und Verwaltungsrecht an der Universität Jena hält, bezeichnete die Behauptung gegenüber AFP als „völligen Blödsinn“. In einer Nachricht am 6. Juni 2024 schrieb er dazu: „Ist eine Norm nicht mit der Verfassung in Übereinstimmung, wird sie durch das Bundesverfassungsgericht für nichtig erklärt; genau das ist hier geschehen. Das Wahlgesetz ansonsten blieb natürlich in Kraft.“
„Selbstverständlich macht man sich nicht strafbar, wenn man am Sonntag wählen geht“, analysierte Marion Albers, Inhaberin des Lehrstuhls für Öffentliches Recht an der Universität Hamburg, auf AFP-Anfrage am 6. Juni 2024. Die Behauptungen seien aus dem Zusammenhang gerissen und „missverstehen die Aussagen des Urteils“. Sie würden sich zudem auf eine veraltete Rechtslage beziehen, so Albers: „Grundlegend ist das Wahlrecht zuletzt 2023 reformiert worden.“
Darüber hinaus betreffe das Urteil gar nicht das Europaparlament, erklärte die Expertin. Für die EU-Wahl gibt es ein eigenes Gesetz, nämlich das Europawahlgesetz. Die dortigen Regelungen sind auch für die Stimmabgabe am 9. Juni 2024 in Deutschland maßgeblich. In dem Urteil des Bundesverfassungsgerichts wird darauf an keiner Stelle eingegangen.
Keine Strafbarkeit für Stimmabgabe
Jörg Eisele, Inhaber des Lehrstuhls für Deutsches und Europäisches Straf- und Strafprozessrecht an der Universität Tübingen, konkretisierte gegenüber AFP am 6. Juni 2024: „Die Ausübung des Wahlrechts ist natürlich keine Straftat, vielmehr ein Recht des Bürgers.“ Er führte die einschlägige Bestimmung in der Grundrechtecharta der EU ins Treffen, wonach Unionsbürgerinnen und Unionsbürger in dem Mitgliedstaat, in dem sie ihren Wohnsitz haben, das aktive und passive Wahlrecht bei den Wahlen zum Europäischen Parlament besitzen – unter denselben Bedingungen wie die Angehörigen des betreffenden Mitgliedstaats.
Im Urteil des Bundesverfassungsgerichts aus 2012 gehe es außerdem weder um eine Strafbarkeit noch um eine allgemeine Unzulässigkeit von Wahlen, so Eisele. User in sozialen Medien führen fälschlicherweise eine Strafbarkeit aufgrund des deutschen Strafgesetzbuches an. In der angeführten Bestimmung ist Beihilfe, eine Form der Beteiligung an einer Straftat, geregelt. Um einen eigenen Straftatbestand handle es sich hierbei jedoch nicht, erklärte Eisele. „Sondern man benötigt einen Straftatbestand, zu dem überhaupt Beihilfe geleistet wird. Den gibt es aber nicht.“
Das bestätigte auch Peter Huber auf AFP-Anfrage am 6. Juni 2024. Er lehrt Öffentliches Recht an der Ludwig-Maximilians-Universität München und war Richter am Bundesverfassungsgericht. Die angeführte Bestimmung im Strafgesetzbuch würde voraussetzen, dass jemand eine Straftat begehe, wovon „nicht die Rede“ sein könne: „Ausgemachter Unsinn!“ Auch Niels Petersen, Professor für Öffentliches Recht, Völker- und Europarecht sowie empirische Rechtsforschung an der Universität Münster, stufte die Behauptungen als „reine Desinformation“ ein, wie er AFP am 6. Juni 2024 schrieb.
EU-Wahl im Juni 2024
Die EU-Wahl findet in allen 27 EU-Mitgliedstaaten zwischen dem 6. und 9. Juni 2024 statt. In Deutschland sind die Wahllokale am Sonntag, 9. Juni 2024, geöffnet. Insgesamt werden 720 Abgeordnete auf fünf Jahre in das Europäische Parlament von rund 400 Millionen Wahlberechtigten gewählt. Aus Deutschland ziehen 96 Abgeordnete ins Parlament ein.
Im Zusammenhang mit der Wahl zum Europäischen Parlament kursieren zahlreiche Falschbehauptungen. AFP hat bereits überprüft, dass ein Wahlzettel mit einem Kreuz über den Rand hinaus eine gültige Stimme ist. Auch ein Loch im Wahlzettel macht die Stimmabgabe nicht ungültig, sondern hilft Blinden. Weitere Faktenchecks rund um die EU-Wahl sammelt AFP auf der Website.
Fazit: Online wird fälschlich behauptet, es sei strafbar, bei der EU-Wahl seine Stimme abzugeben. Als vermeintlicher Beleg wird ein Urteil des deutschen Bundesverfassungsgerichts aus 2012 angeführt. Dieses Urteil hat jedoch nichts mit der EU-Wahl zu tun und bezog sich lediglich auf die Sitzverteilung im deutschen Bundestag.