Przemyśl in Polen: Berichten über Sozialbetrug durch ukrainische Geflüchtete fehlt Kontext

„Sie kommen, kassieren, fahren nach Hause – und kehren vier Wochen später wieder zurück“ – so berichtet die Schweizer Weltwoche Mitte November über ukrainische Geflüchtete in Polen. In dem Artikel geht es um die polnische Stadt Przemyśl an der Grenze zur Ukraine. Die Stadt tauchte im Frühjahr mehrfach in deutschen Medienberichten auf (hier oder hier), weil dort viele ukrainische Geflüchtete ankommen; sie wird als „Knotenpunkt“ bezeichnet.

Die Weltwoche schreibt, der Bürgermeister von Przemyśl, Wojciech Bakun, habe die Menschen anfangs willkommen geheißen, sei jetzt aber „nüchterner“: Er habe auf Facebook geschrieben, dass Gruppen aus der Ukraine nach Przemyśl kämen, die das Sozialsystem missbrauchten. Dazu habe Bakun Fotos von Roma gestellt, die sich „in der Stadt ausbreiten“ würden. Die Transporte aus der Ukraine und zurück seien laut einem Beamten der Stadtverwaltung organisiert. Zudem behauptet die Weltwoche, dass Flüchtlinge in Polen, sobald sie in der Sozialversicherung registriert seien, jeden Monat vom Staat „umgerechnet bis zu 160 Franken“ erhielten. Gemeint sind Schweizer Franken, die Zahl entspricht also etwa 162 Euro oder rund 760 polnischen Złoty.

Gemeinsam mit der Journalistin Monika Szafrańska von der polnischen Faktencheck-Organisation Demagog haben wir zu den Behauptungen recherchiert. Das Ergebnis: Die genannte Summe der finanziellen Hilfe für Geflüchtete in Polen pro Monat ist falsch. Tatsächlich gibt es aber mehrere Berichte aus Polen von September 2022 über den Missbrauch von Sozialleistungen in Przemyśl. Darin ist auch von Hinweisen auf organisierte Aktivitäten die Rede. Das Ausmaß ist nicht bekannt. Die Berichte stützen sich auf Beobachtungen von Beamten in Przemyśl. Polen hat mit einem Gesetzentwurf reagiert, der Kontrollen und Datenabgleiche vereinfachen soll.

Bürgermeister von Przemyśl beklagte im September Missbrauch des Sozialsystems durch Menschen, die aus der Ukraine einreisen

Die Aussagen des Bürgermeisters von Przemyśl liegen schon etwas weiter zurück. Am 26. September veröffentlichte Bakun auf Facebook einen Beitrag, in dem er sich dafür ausspricht, den Menschen aus der Ukraine zu helfen. Er beobachte aber einen Missbrauch des Sozialsystems: „Es ist unmöglich, die organisierten Transporte von Frauen mit Kindern zu übersehen, die Karten dabei haben, auf denen geschrieben steht, welche Verfahren sie durchlaufen müssen, um materielle und finanzielle Unterstützung zu erhalten. Diese Leute stehen jeden Tag vor dem Rathaus Schlange, gehen dann zum MOPS [Städtisches Zentrum für Sozialhilfe, Anm. d. Red.] und zum Sozialversicherungsamt, um Leistungen zu beantragen. Dann kehren sie mit organisiertem Transport in die Ukraine zurück.“

Bakun appelliert an die Politik in Polen, etwas dagegen zu tun. Die Kommunalregierungen selbst hätten keine Instrumente, um diese Praxis zu verhindern: „Wir können diese Menschen nur legal im PESEL-System registrieren, das den Weg für die Nutzung einer ganzen Reihe von Unterstützungsinstrumenten öffnet.“

Wie funktioniert das Sozialsystem in Polen für Geflüchtete aus der Ukraine?

Das PESEL-System, das Bakun erwähnt, ist ein elektronisches Bürgerregister in Polen, in dem Menschen eine Identifikationsnummer zugewiesen bekommen. Alle polnischen Staatsbürgerinnen und Personen mit permanentem Aufenthalt in Polen werden dort registriert – also auch Ausländer. Menschen aus der Ukraine, die vor dem Krieg fliehen, wird in Polen explizit angeboten, sich diese PESEL-Nummer zu besorgen, damit sie zum Beispiel Anspruch auf Gesundheitsversorgung oder Sozialleistungen erhalten können.

Geflüchtete aus der Ukraine erhalten in Polen eine einmalige Bargeld-Zahlung von 300 Złoty (umgerechnet etwa 64 Euro). Sie ist für Lebensmittel, Kleidung, Schuhe, Körperpflegeprodukte und Unterkunft gedacht. Voraussetzung dafür ist eine Registrierung im PESEL-System und die Erklärung des Wunsches, dauerhaft in Polen bleiben zu wollen. Diese Zahlung ist nur einmal vorgesehen, nicht monatlich.

Zusätzlich können ukrainische Eltern pro Kind monatlich 500 Złoty bekommen. Auch das entspricht jedoch nicht den Angaben der Weltwoche von 760 Złoty pro Monat. Es ist außerdem eine Leistung, die nur Menschen mit Kindern bekommen.

Für die Aussage, dass alle Geflüchteten aus der Ukraine in Polen jeden Monat 760 Złoty vom Staat bekommen, liefert die Weltwoche keine konkrete Quelle. Wir konnten bei unserer Recherche ebenfalls keinen Beleg dafür finden. Auch Monika Szafrańska von Demagog konnte diese Summe nicht verifizieren.

Kontrollen können Betrug laut Berichten nicht immer verhindern 

Für die genannten Geldleistungen müssen die Menschen ihren permanenten Wohnsitz in Polen haben, erklärte das polnische Ministerium für Familie und Sozialpolitik im Juli schriftlich auf eine Anfrage im polnischen Parlament. Wer das Land länger als einen Monat verlasse, verliere den Anspruch darauf. Es sei den zuständigen Behörden möglich, die Daten in den Registern zu prüfen. „In Fällen, in denen ein Sozialarbeiter […] Zweifel an den tatsächlichen Bedürfnissen dieser Personen und Familien hat, hat er daher die Möglichkeit, ein Familienhintergrundgespräch an ihrem Wohnort zu führen.“

Allerdings ist der Informationsfluss zwischen den Behörden in Przemyśl und der Grenzwache mutmaßlich nicht immer ausreichend dafür, berichtete die Zeitung Gazeta Wyborcza (Artikel hinter Bezahlschranke) Ende September. Es sei zum Beispiel nicht immer möglich zu prüfen, ob das Kind, für das Kindergeld beantragt werde, Polen verlasse. Es gebe Fälle, in denen Familien bereits aufgefordert worden seien, Geld zurückzuzahlen.

Ein Beamter aus Przemyśl sagte gegenüber Gazeta Wyborcza außerdem, dass teilweise versucht werde, die einmalige Bargeldzahlung von 300 Zloty mehrfach in verschiedenen Gemeinden zu beantragen. Dem Beamten sei auch ein „Handbuch“ in die Hände gefallen, in denen Adressen der Behörden und eine Anleitung zum Beantragen von Sozialleistungen stünden.

Die Berichte des Bürgermeisters und der polnischen Zeitung stammen von September. Neue Informationen, Aussagen zu dem Umfang dieser Praktiken in Przemyśl, oder ob sie noch immer anhalten, fanden wir nicht. Mehrfache Anfragen von uns per E-Mail an das Büro des Bürgermeisters Wojciech Bakun blieben unbeantwortet.

Polen hat Gesetzentwurf auf den Weg gebracht, um Missbrauch von Sozialleistungen zu verhindern 

Die Faktencheck-Redaktion Demagog wies uns auf einen Gesetzesentwurf der polnischen Regierung von Oktober 2022 hin, der eine Reaktion auf die Berichte über Missbrauch von Sozialleistungen sein könnte. Darin ist vorgesehen, dass jeder Geflüchtete aus der Ukraine verpflichtend eine PESEL-Nummer erhalten muss. Zudem soll das Register für ukrainische Bürger als verpflichtendes Element ein Foto der Person enthalten.

Es soll zudem für die zuständigen Behörden eine Rechtsgrundlage geschaffen werden, um aus dem Grenzschutzregister Informationen zum Grenzübertritt ukrainischer Staatsbürger einfordern zu können. Damit sollen laut dem Gesetzesentwurf „Fälle von unbefugtem Erhalt von Leistungen“ beseitigt werden. Der Gesetzentwurf liegt derzeit zur Prüfung beim Rechtsausschuss und wurde noch nicht vom Parlament angenommen (Stand 29. November).

Aussagen des Bürgermeisters zu Roma in Przemyśl riefen Kritik hervor

Im Artikel der Weltwoche heißt es, Wojciech Bakun habe seiner Aussage auf Facebook Fotos beigefügt, die Roma zeigten – er werfe ihnen Missbrauch des Sozialsystems vor. Sie würden sich „in der Stadt ausbreiten“.

Tatsächlich schrieb Bakun in dem Facebook-Beitrag nichts von einer Ausbreitung oder von Roma. In einem Interview mit dem polnischen polnischen Radiosender Tok FM sagt Bakun, er habe auf Facebook bewusst nicht über Roma geschrieben. Er glaube,  dass der Missbrauch nicht nur durch Roma geschehe. Aber Daten würden zeigen, dass die meisten Menschen, die aus der Ukraine nach Przemyśl einreisten, Roma seien.

Diese Aussagen stießen auf Kritik bei Personen aus der Flüchtlingshilfe. Tok FM zitiert einen Vertreter einer Organisation namens Union der Ukrainer. Er sagt, es gebe sicherlich einige Menschen, die nur auf finanzielle Vorteile aus seien – das sei aber nicht die Mehrheit.

Witold Klaus, Rechtswissenschaftler, Migrationsforscher und Gründer einer Vereinigung für Rechtsberatung für Geflüchtete und Migrantinnen in Polen wird ebenfalls in dem Beitrag zitiert. Klaus nennt die Aussage, dass Geflüchtete nur wegen Sozialleistungen nach Polen kämen, zynisch, da diese Menschen vor einem Krieg fliehen. Dem Argument des Bürgermeisters Bakun, dass Menschen, die in die Ukraine zurückkehren und in einer Region ohne Kriegshandlungen leben, keine Flüchtlinge sondern Reisende seien, widerspricht Klaus: „Sie kehren zurück, um ihren kranken Eltern zu helfen, die nicht fliehen konnten, um ihre Ehemänner oder Brüder zu treffen, die im Krieg kämpfen.“

Redigatur: Uschi Jonas, Viktor Marinov

Die wichtigsten, öffentlichen Quellen für diesen Faktencheck:

  • Facebook-Beitrag des Bürgermeisters Wojciech Bakun aus der Stadt Przemyśl, 26. September 2022: Link (Polnisch)
  • Webseite der polnischen Regierung für Bürger der Ukraine, „Einmalige Geldleistungen und kostenlose medizinische Versorgung“: Link (Polnisch)
  • Webseite der polnischen Regierung für Bürger der Ukraine, „Sozialhilfe für die Erziehung von Kindern 500+ und Familienkapital für die Pflege“: Link (Polnisch)
  • Antwort des Familienministeriums auf eine Anfrage im polnischen Parlament, 22. Juli 2022: Link (Polnisch)
  • Bericht der Zeitung Gazeta Wyborcza, „Beamte über ‚organisierte Gruppen aus der Ukraine‘: Sie bekommen Sozialhilfe und kommen zurück. Sie haben Anweisungen“, 27. September 2022: Link (bezahlpflichtig, Polnisch)
  • Gesetzentwurf des polnischen Innenministeriums, „Entwurf eines Gesetzes zur Änderung des Gesetzes über die Unterstützung von Bürgern der Ukraine im Zusammenhang mit dem bewaffneten Konflikt auf dem Territorium dieses Staates und bestimmter anderer Gesetze“: Link (Polnisch)
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Autor(en): CORRECTIV

Ursprünglich hier veröffentlicht.

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