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Ukrainische Schulbücher stellen Hitler als totalitären Besatzer dar

Während der russische Angriffskrieg in der Ukraine andauert, werden online gezielt prorussische Falschinformationen verbreitet. In sozialen Medien zirkuliert derzeit das Foto einer angeblichen Schulbuchseite, worauf Hitler als „Befreier“ der Ukraine bezeichnet wird. AFP konnte jedoch alle offiziellen ukrainischen Schulbücher überprüfen und fand keine entsprechende Darstellung. Laut Expertinnen und Experten widerspricht eine positive Darstellung des Naziregimes dem offiziellen ukrainischen Lehrplan und ist nach ukrainischem Recht verboten. 

Ein Schwarz-Weiß-Foto von Adolf Hitler kursiert derzeit viral in soziale Medien: „In einem der neu aufgelegten Geschichtslehrbücher für Gymnasien ist ein Absatz über Adolf Hitler – ‚einen deutschen Staatsmann und Politiker‘ – erschienen“, heißt es in einem zehntausendfach geklickten Telegram-Beitrag vom 3. Juli 2024. Dazu geteilt wurde das Foto einer Buchseite, die ein Hitler-Portrait sowie einen kurzen ukrainischen Text zeigt. In dem Beitrag wird behauptet, dass ukrainischen Schülerinnen und Schülern beigebracht werde, Hitler habe im zweiten Weltkrieg die Region Lwiw befreit.

Die vermeintliche Schulbuchseite wurde auch auf anderen Plattformen wie Facebook und X geteilt, versehen mit dem Kommentar, dass „ukrainischen Kindern nicht nur in der Schule eine alternative Geschichte beigebracht“ werde.

Ähnliche Beiträge wurden zudem in anderen Sprachen wie Bulgarisch, Französisch, Englisch und Russisch veröffentlicht.

Telegram- und X-Screenshot der Behauptung: 31. Juli 2024

Der ukrainische Text auf dem Foto besagt tatsächlich, dass „Hitler in der Geschichte der Ukraine eine entscheidende Rolle beim Versuch spielte, unser Land von den sowjetischen Invasoren zu befreien. Die Westukraine wurde von deutschen Streitkräften befreit (die Oblast Lemberg wurde 1941 [befreit]).“ Diese Aussagen wurden in den deutschsprachigen Posts aufgegriffen.

AFP konnte jedoch alle aktuellen Geschichtslehrbücher der Ukraine überprüfen und fand darunter keine solche Seite oder Aussage. Expertinnen und Experten erklärten AFP zudem, dass die Verherrlichung des Nationalsozialismus laut ukrainischem Recht verboten ist.

Fragwürdige Seite in offiziellen Schulbüchern nicht auffindbar

Im ukrainischen Schulunterricht beginnt eine erste Einführung in die Geschichte und staatsbürgerliche Erziehung in der fünften Klasse, wenn die Kinder elf bis zwölf Jahre alt sind. Laut dem offiziellen Lehrplan des Bildungsministeriums lernen Schülerinnen und Schüler ab der siebten Klasse nähere Einzelheiten der ukrainischen Geschichte, während der Zweite Weltkrieg erst ab der zehnten Klasse (im Alter von 15 bis 16 Jahren) detaillierter vermittelt wird. Das erklärte Yuliia Topolnytska, außerordentliche Professorin für zeitgenössische ukrainische Geschichte an der Taras-Schewtschenko-Universität in Kiew und Expertin der ukrainischen NGO Smart Osvita für die Modernisierung der Schulbildung, am 18. Juli 2024 gegenüber AFP. Sie wies darauf hin, dass „die Lehrpläne und offiziellen Schulbücher alle fünf Jahre aktualisiert werden“ und „die letzte Aktualisierung im Jahr 2022 stattfand“.

Alle für die Schulen in der Ukraine zugelassenen Lehrbücher können online für jede Klassenstufe auf der Website des Instituts für die Modernisierung von Bildungsinhalten eingesehen werden.

AFP hat alle Schulbücher über ukrainische Geschichte und allgemeine Geschichte der Klassen fünf bis elf überprüft und nirgends eine Seite gefunden, auf der Hitler als „Befreier“ dargestellt wird. Im Gegenteil: Worte wie „Besatzung“, „Tragödie“ und „Massenvernichtung“ werden mit der Zeit der nationalsozialistischen Herrschaft über die Ukraine in Verbindung gebracht.

In einigen Schulbüchern der fünften Klasse, die sich mit der Ukraine und der Weltgeschichte befassen, werden die Millionen von Toten, die Hitler und die deutsche Besatzung der Ukraine verursacht haben, sowie die rassistische Ideologie des Nationalsozialismus beschrieben (etwa in diesem und in diesem Buch).

Die Beobachtungsstelle für den Geschichtsunterricht in Europa (Ohte) ist für die Übersicht aller europäischer Geschichtsfächer zuständig. Sie erklärte gegenüber AFP, dass der Zweite Weltkrieg in den ukrainischen Schulbüchern der fünften Klasse „nur skizziert“ werde. Im Wesentlichen werden darin einige Schlüsseldaten behandelt, etwa der Kriegsbeginn im Jahr 1939 und die Ankunft der Roten Armee in der Ukraine, die deutsche Aggression gegen die Ukraine ab dem Jahr 1941, verschiedene Formen ukrainischen Widerstands zwischen 1941 und 1945 (das beinhaltet den sowjetischen Widerstand gegen die Nazis sowie den nationalistischen Widerstand gegenüber Nazis und Sowjets) und schließlich die Befreiung des Landes zwischen 1944 und 1945. „Dabei gibt es nicht die geringste Verherrlichung oder gar Normalisierung Hitlers und seiner Politik und auch nicht die geringste positive Würdigung seiner Rolle für die Ukraine [in diesen Schulbüchern]“, fasste die Ohte gegenüber AFP zusammen.

Die folgenden Screenshots aus einem Geschichtsbuch der fünften Klasse zeigen, dass darin sowohl die Sowjets als auch die Nazis als Besatzungsmächte dargestellt werden. Neben Verweisen auf den Holocaust und einer klaren Verurteilung des Naziregimes heißt es in dem Text, dass die ukrainische Befreiungsbewegung das Ziel hatte, „die Ukraine von den deutschen und bolschewistischen Besatzern zu befreien“ und einen unabhängigen ukrainischen Staat zu schaffen.

Screenshots aus zwei aktuellen ukrainischen Geschichtsschulbüchern der fünften Klasse. Aufgenommen am 24. Juli 2024

Diese Seiten fassen eine komplexe Periode der ukrainischen Geschichte kurz zusammen, wie Bertrand de Franqueville, Doktorand am Lehrstuhl für Ukrainistik der kanadischen Universität Ottawa am 16. Juli 2024 gegenüber AFP erklärte: „Während des Zweiten Weltkriegs war die Ukraine ein Gebiet, das doppelt besetzt war: von den Nazis und von den Sowjets. […] An beide Übel wird erinnert – an die Besatzung von sowjetischer Seite und die von nationalsozialistischer Seite.“

Nationalsozialistische Besatzung kritisch kontextualisiert

Bertrand de Franqueville erinnerte an den besonderen Kontext der Zeit des Zweiten Weltkriegs: „Die Ukraine war gerade dabei, den Holodomor zu überwinden, also die vom sowjetischen Regime organisierte Hungersnot, die Millionen Tote gefordert hatte. Darauf folgte der Terror der sowjetischen Besatzung. Zu dieser Zeit galten die Sowjets als bekannter Unterdrücker auf [ukrainischem] Territorium. […] So haben viele Ukrainer Nazideutschland zu Beginn tatsächlich als Befreiungsarmee gesehen, weil sie zuvor nur die Erfahrung eines totalitären sowjetischen Systems gemacht hatten.“

„Es stellte sich jedoch schnell heraus, dass diese Einschätzung falsch war. Nazideutschland war eine schreckliche Besatzungsmacht, die schlimme Pogrome durchführte, insbesondere in Lemberg, aber auch in Kiew, etwa mit dem Massaker von Babyn Jar, das als ‚Shoah mit Kugeln‘ bezeichnet wurde“, führte Bertrand de Franqueville weiter aus. „Gleichzeitig kam es zu intensiver Kollaboration innerhalb der ukrainischen Bevölkerung. Auch das ist eine historische Tatsache, die nicht geleugnet werden kann. Dieses Phänomen wurde in ganz Europa beobachtet“, erklärte der Experte und wies darauf hin, dass auch im aktuellen ukrainischen Gedenken die Verwicklungen der Kollaboration hervorgehoben werden.

In der zehnten Klasse wird der Zweite Weltkrieg im ukrainischen Geschichtsunterricht noch einmal ausführlicher behandelt, wie aus den Details des Geschichtslehrplans hervorgeht. Verschiedene Kapitel des Lehrplans behandeln dabei „die Besetzung der Ukraine durch deutsche Truppen“, „Konzentrationslager“ und „den Widerstand gegen die Nazi-Invasoren“. Die Frage der Kollaboration mit den Nazis wird ebenso behandelt wie der Holocaust, zum Beispiel in Kapitel 33 dieses offiziellen Lehrbuchs.

Screenshots aus zwei offiziellen ukrainischen Geschichtslehrbüchern für die 10. Klasse, die zeigen, wie Hitler und das NS-Regime dargestellt werden. Aufgenommen am 24. Juli 2024

AFP fand in keinem Schulbuch eine positive Erwähnung Hitlers. In einem wird er als „Haupttäter des Zweiten Weltkriegs, verantwortlich für Völkermord und Verbrechen gegen die Menschlichkeit“ bezeichnet. „Er war verantwortlich für Kriegsverbrechen, Massenmorde an Zivilisten in den besetzten Gebieten, den Holocaust“ heißt es auf Seite 85. Ein anderes Schulbuch nennt ihn „einen der blutigsten Diktatoren der Geschichte“.

Verherrlichung von Hitler in offiziellen Geschichtslehrbüchern verboten

Im Jahr 2015 hat das ukrainische Parlament ein Gesetz verabschiedet, das die Propaganda des nationalsozialistischen sowie des kommunistischen Regimes verbietet. Laut dem Gesetz gilt als Propaganda unter anderem die „Verbreitung von Informationen, die darauf abzielen, den verbrecherischen Charakter des kommunistischen und nationalsozialistischen (Nazi-)Regimes zu entschuldigen“. Das Gesetz verbietet außerdem die Verwendung von nationalsozialistischen und kommunistischen Symbolen. Diese verbotenen Symbole dürfen zwar „in Lehrbüchern, Schulbüchern und anderen Materialien für Forschung und Bildung“ gezeigt werden, aber nur unter der Bedingung, dass „diese Verwendung nicht zu einer Propaganda verbrecherischer Natur der beiden Regime führt“.

Laut Ohte sind die Geschichtslehrpläne in der Ukraine für alle öffentlichen und privaten Sekundarschulen verpflichtend. Auf einem Informationsblatt über das Land (Seite 69 der PDF-Datei) erklärt die Ohte, dass diese Lehrpläne im Voraus vom Bildungsministerium und dem Institut für die Modernisierung von Bildungsinhalten genehmigt werden müssen. „Diese beiden Einrichtungen sind für die wettbewerbsorientierte Auswahl und Veröffentlichung von Geschichtslehrbüchern zuständig“, heißt es im Ohte-Blatt.

Das Ukrainische Institut für Nationale Erinnerung teilte AFP am 15. Juli 2024 mit, dass ein Lehrbuch, das nicht dem aktuellen Lehrplan entspräche, von diesen Institutionen nicht genehmigt werden kann. Ein Schulbuch, das Hitler und die deutsche Armee als Befreier, statt als totalitärer Besatzer darstelle, dürfe somit gar nicht an Schulen verteilt werden. „Es ist […] höchst unwahrscheinlich, dass ein nicht genehmigtes Lehrbuch an Schulen gelangt. Wenn eine Seite wie die, die [in sozialen Netzwerken] geteilt wurde, tatsächlich existieren sollte, wäre sie definitiv nicht von [der ukrainischen Regierung] genehmigt worden“, sagte Ohte am 16. Juli 2024 gegenüber AFP.

„In der Ukraine unterliegen alle Schulbücher, die auf Kosten des Haushalts herausgegeben werden, dem Wettbewerb und der externen Expertise. Ein solcher Text ist in einem Lehrbuch, das unter dem Siegel des Ministeriums veröffentlicht wird, nicht möglich“, erklärte außerdem der Historiker Georgij Kasianow, der an der Maria-Curie-Skłodowska-Universität in Lublin lehrt, am 22. Juli 2024 gegenüber AFP. „Die offizielle Auffassung des Zweiten Weltkriegs, wie sie sich im Schulunterricht widerspiegelt, geht davon aus, dass die Ukraine im Epizentrum des Kampfes zwischen zwei totalitären Regimen stand – Hitlers und Stalins. Folglich kann ein solcher Text [der Hitler lobt, Anm. d. Red.] nicht in einem offiziell genehmigten Geschichtslehrbuch erscheinen“, fügte er hinzu.

Falschbehauptung in russischen Netzwerken verbreitet

Am 10. Juli 2024 wurde der Text der angeblichen Schulbuchseite auf der Website „RIA Novosti Crimea“ verbreitet, das zum staatlichen Sender „Russia Today“ gehört.

Die falsche Behauptung wurde zudem auf pravda-de.com veröffentlicht. Die Website ist Teil eines koordinierten Netzwerks, das russische Propaganda in Europa und den Vereinigten Staaten verbreitet, wie die französische Beobachtungsstelle für digitale Einflussnahme aus dem Ausland (Viginum) aufdeckte. In diesem Artikel sowie in Telegram-Posts in russischer und serbischer Sprache wird außerdem behauptet, dass die Schulbuchseite in einem Museum in Lwiw verteilt werde.

Am 1. Januar 2024 berichteten Medien, dass das Gebäude dieses Museums nach einem Drohnenangriff zerstört wurde, was eine Überprüfung der Behauptung erschwert.

Die grundsätzliche Argumentationslogik, dass ein ukrainisches Schulbuch Hitler als „Befreier“ preise, passt zur Rhetorik des Kremls: Seit dem Beginn des russischen Einmarsches in der Ukraine werden Darstellungen der Ukraine als Land, das sich die Nazi-Ideologie zu eigen gemacht habe, von höchster Stelle wiederholt. Am 24. Februar 2022, dem Tag des russischen Einmarsches in das Land, stellte Wladimir Putin die „Militäroperation“ als einen Kampf für die „Entmilitarisierung und Entnazifizierung der Ukraine“ dar.

Expertinnen und Experten, die von AFP zu diesem Thema befragt wurden (zum Beispiel hier und hier), haben dieses Argument bereits widerlegt. Obwohl ultranationalistische Bewegungen in der Ukraine und auch in der Armee aktiv sind, bleiben sie eine „Minderheit“ und werden auf politischer Ebene marginalisiert.

Seit Beginn der russischen Invasion hat AFP zahlreiche falsche und irreführende Behauptungen überprüft .

Fazit: Eine angebliche Schulbuchseite, die Hitler als Befreier der Ukraine preist und in sozialen Medien kursierte, stammt nicht aus einem offiziellen, ukrainischen Geschichtsschulbuch, wie AFP überprüfen konnte. Laut mehreren Expertinnen und Experten verbietet es die ukrainische Gesetzgebung zudem, den Nationalsozialismus zu verherrlichen.

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Geschichte, Politik, Ukraine

Autor(en): Gundula HAAGE / Rossen BOSSEV / Alexis ORSINI / AFP Bulgarien / AFP Frankreich

Ursprünglich hier veröffentlicht.

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